Biografiearbeit

Warum ist Biografiearbeit wichtig?

Biografiearbeit hilft Klarheit in der eigenen Lebensgeschichte zu erlangen.
Das, was Menschen erleben, prägt sie. Jede Erfahrung wird gewichtet und bildet einen Baustein für den eigenen Lebensweg, für die Art, wie Entscheidungen getroffen und Beziehungen gelebt werden. Häufig geschieht dies unbewusst.
Nur das Bewusstsein um die eigene Geschichte, das Verstehen, welche Ereignisse einen Menschen – auch und gerade in einem sehr frühen und nicht erinnerlichem Alter – geprägt haben, bieten aber die Möglichkeit für Veränderungen.

Üblicherweise haben Kinder oder Erwachsene die Möglichkeit, sich über Personen ihres nahen Umfeldes (Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Freunde oder Nachbarn) an Dinge zu erinnern oder können nicht mehr Erinnertes nachfragen und so die für sie wichtigen Erlebnisse in ihr Leben integrieren.

Pflegekinder leben nicht mehr in ihrem früheren nahen Umfeld, sondern in einem neuen Familiensystem mit neuen sozialen Bezügen. Für sie ist diese Form der Informationsgewinnung nur schwierig oder auch gar nicht möglich. Sie kommen häufig ohne bekannte Biografie, also nur mit rudimentären Grundinformationen in ihrer Pflegefamilie an.

Die Pflegeeltern haben dann bei physischen oder psychischen Entwicklungsstörungen des Kindes keinen biografischen Hintergrund, der ihnen die Problematiken des Kindes verstehen helfen könnte.
Auch die Pflegekinder sind zwar häufig um Veränderung bemüht, können aber, wenn ihnen Informationen fehlen oder sie sie nicht wahrhaben wollen, ihren Weg aufgrund ihres „aus unbewussten Erfahrungen angelegten Lebensweg“ kaum verlassen. Basierend auf wenigen, häufig „geschönten“ Informationen entwickeln sie Vorstellungen über ihre Geschichte, die mit den tatsächlichen Begebenheiten (und damit dem, was sie geprägt hat) nicht in Einklang zu bringen sind. Das birgt die Gefahr, dass unrealistische Vorstellungen entwickelt werden.

Deshalb ist es wichtig, mit dem Kind gemeinsam an seiner Biografie zu arbeiten. Dies fällt Pflegeeltern häufig schwer. Wenn sie z.B. mit der Aufnahme des Kindes überwiegend den Wunsch verbunden haben, die eigene Familie um ein Mitglied zu erweitern, können sie dazu neigen zu vergessen, dass das Kind neben ihnen noch eine weitere Familie und dort entsprechende (positive und negative) Erfahrungen gemacht hat. Wenn das Kind durch die eigene Familie traumatisiert wurde, kann es Pflegeeltern schwer fallen, die Eltern in das Leben des Kindes zu integrieren. Ähnliches gilt auch bei Nicht-Interesse der leiblichen Eltern.

Unabhängig davon, ob Kontakt zwischen leiblichen Eltern und Kind besteht und auch davon, welche Vorfälle zur Herausnahme des Kindes aus der leiblichen Familie geführt haben ist es wichtig, dass sich Pflegeeltern verdeutlichen, dass auch die ersten Lebenserfahrungen des Kindes existentieller Bestandteil seines Lebens sind.
Setzen sie sich mit der Geschichte ihres Pflegekindes auseinander, kann ihnen das helfen, das Verhalten des Kindes zu verstehen.
Unterstützen sie ihr Pflegekind in der Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, helfen sie ihm, über die Bewusstmachung einen Weg zur Veränderung vorzubereiten.

Wie „funktioniert“ Biografiearbeit?

Die Biografie ist eine Art Lebenslauf, der nie abgeschlossen ist, sondern sich bis zum Tod eines Menschen immer weiter und anders gestaltet.

Dabei wird die Biografie nicht nur von den eigenen Empfindungen und Erinnerungen sondern auch denen außenstehender Personen und der Deutungen und Interpretationen ergänzt und beeinflusst.

Das Ziel von Biografiearbeit ist es, Erkenntnisse über die Lebensgeschichte eines Menschen zu sammeln, Klarheit darüber zu erlangen, was diese Erkenntnisse für den Lebensweg bedeuten und ggf. einen Weg für eine nachfolgende Veränderungsarbeit zu schaffen.
Biografiearbeit bei Pflegekindern hat darüber hinaus noch zum Ziel, die leiblichen Eltern mit ihren positiven und negativen Seiten in das Leben des Kindes zu integrieren.

Eine klare Anleitung, wie dieses Ziel zu erreichen ist, gibt es nicht. Grundsätzlich ist es aber wichtig, dass diejenigen, die die Biografiearbeit mit einem Kind beginnen, bereit sind, sich auf eine beständige Beziehung mit dem Kind einzulassen. Biografiearbeit kann sowohl im familiären Rahmen als auch eingebunden in eine therapeutische Maßnahme erfolgen.

Es bietet sich an, gemeinsam mit dem Kind ein Lebensbuch zu gestalten (z.B. ein Schnellhefter, dem Seiten hinzugefügt werden oder in dem Seiten ausgetauscht werden können). In dieses Buch können aufgenommen werden

· eine Landkarte, auf der alle wichtigen Lebensstationen des Kindes eingezeichnet sind,
· ein Familienstammbaum,
· Kopie der Geburtsurkunde,
· Fotos der leiblichen Familie, von Bereitschaftspflege- und Dauerpflegepersonen oder von früheren Wohnorten/Zeichnungen des Kindes,
· Informationen zu den leiblichen Eltern (Name, Geburtstag und –ort),
· Informationen zu leiblichen Geschwistern (Name, Alter, wo leben sie),
· Informationen zu weiteren Verwandten (Grosseltern, Tante, Onkel…),
· Informationen zu Wohnorten vor der Inpflegegabe (wann wo mit wem gewohnt),
· Informationen zur Ankunft in der Pflegefamilie,
· Informationen zur Pflegefamilie,
· Informationen zu Kindergarten, Schulen, anderen Einrichtungen, in denen sich das Kind aufgehalten hat,
· Erinnerungen des Kindes,
· Erinnerungen anderer Personen (Sozialarbeiter, Verwandte, Eltern, Pflegeeltern…),
· Raum für persönliche Eintragungen des Kindes (Lieblingstier, Lieblingssänger… , Berufswunsch, eigene Stärken und Schwächen, beste Freunde usw.),
· …

Ale Eintragungen sollten mit Datum versehen werden und können – wenn das Kind älter geworden ist – ergänzt werden.

Das Lebensbuch kann auch als Tonträger oder Videokassette gestaltet werden.

Wichtig: Es geht bei der Biografiearbeit nicht darum, innerhalb einer bestimmten Zeit ein Kunstwerk zu schaffen. Es geht vielmehr darum, einen Prozess der Auseinandersetzung und Bewusstseinsmachung in Gang zu setzen. Inhalt und Tempo sind von Kind zu Kind unterschiedlich. Zeit für Gespräche, die sich aus der Gestaltung des Lebensbuches ergeben können, muss zur Verfügung stehen. Die Bereitschaft der begleitenden erwachsenen Person, sich auf Gespräche mit schwierigem Inhalt (z.B. Missbrauch, Misshandlung oder Suchtmittelkonsum in der Herkunftsfamilie) einzulassen und die Fähigkeit, das Kind einfühlsam zu begleiten, sind unabdingbar. Zudem muss die begleitende Person darauf achten, dass das Kind im Rahmen der Biografiearbeit nicht überfordert wird.

In der Biografie eines Pflegekindes wird es möglicherweise Zeiten oder Ereignisse geben, über die keine oder kaum Informationen vorliegen oder zu erhalten sind. In diesem Fall muss im Rahmen der Biografiearbeit auf die wahrscheinlichste Vermutung oder auf Generalisierungen zurück gegriffen werden („Oft haben Eltern selber eine schwierige Kindheit gehabt und nie gelernt, was ein Kind benötigt“ o.ä.).

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